Was ist Credition?
Credition kommt von credere, dem lateinischen Wort für glauben. Der Ausdruck Credition ist in gleicher Weise gebildet wie Emotion oder Kognition. Mit Credition [im Singular] wird jene zentrale Funktion des Gehirns bezeichnet, die Glauben hervorbringt. Mit Creditionen [in der Pluralform] werden die Vorgänge bezeichnet, die Glauben entstehen lassen. Sie laufen vornehmlich unbewusst (subliminal) ab.
[1] Ist es richtig, wenn ich bei "glauben" an Religion denke?
Das ist ein Problem. Es ist allerdings weit verbreitet, dass man bei Glauben zuerst an Religion denkt. Dies ist Folge einer rund zweitausendjährigen europäischen Geistesgeschichte und hängt somit auch mit dem Christentum zusammen.
[3] Wann treten Creditionen auf?
Creditionen können in unterschiedlichen Situationen aktiviert sein, z.B. bei der Selbsteinschätzung oder der Einschätzung unklarer Situationen. Sie können dabei in ganz verschiedenen Bereichen auftreten. Neben solchen, die sich auf Religion beziehen, gibt es auch Glaubensvorgänge im Kontext von Politik, Technik, Klimawandel, Wirtschaft, Führungsverhalten (Leadership), Finanzinvestitionen - aber auch im Zusammenhang mit Ernährung, Gesundheit oder Partnerschaft.
[4] Sind Creditionen für mich persönlich wichtig?
Ja. Creditionen sind z.B. aktiviert, wenn man über Sinnfragen nachdenkt, etwa darüber, welchen Sinn das Leben hat oder welche Bedeutung man der Beziehung zu einem anderen Menschen zumisst. Creditionen beeinflussen, wofür und für wen man leben oder wofür man sich engagieren möchte. Darüber hinaus spielen Creditionen bei der Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen eine Rolle, ebenso bei der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Eine herausragende Bedeutung bekommen Creditionen heute auch deswegen, weil die Überschwemmung mit Fake-news dazu führt, dass wir unsicher werden und uns die Frage stellen: Was kann man überhaupt (noch) glauben?
[5] Merkt man, ob und wie die eigenen Creditionen wirken?
Der Ablauf von Creditionen beginnt außerhalb der bewussten Wahrnehmung. Die dabei entstehenden “vorbewussten Vorstellungen” sind subliminal und heißen primal beliefs. Wenn die “Bewusstseins-Schwelle” überschritten wird, können wir die Einstellungen und Haltungen, die durch Creditionen hervorgebracht werden, bewusst wahrnehmen. Nun können sie als „Glaube, dass …“ oder „Glaube an …“ erfasst und sprachlich ausgedrückt werden. Zwar sind Creditionen auch schon in einer subliminalen Phase wirksam, doch spätestens ab ihrer Bewusstwerdung und Versprachlichung bestimmen die Ergebnisse unserer Creditionen nachhaltig unser Handeln.
[6] Welche Auswirkungen haben Creditionen?
Es ist nicht gleichgültig, welchen Glauben und welche Überzeugungen man während des Ablaufs von Creditionen entwickelt. Werden sie durch metakognitive Reflexion stabilisiert, beeinflussen sie unsere eigene Gefühlslage und unser Mindset, insbesondere aber unser Handeln und unser Verhalten. Allerdings kann sich die Stabilität von glaubensbasierten Überzeugungen durch neue Stimuli aus der Außen- oder Innenwelt wieder verändern. Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn es um religiösen Glauben geht (siehe [10]).
[7] Seit wann gibt es Creditionen?
Vor ca. zwei Millionen Jahren kam es zu einer weitreichenden evolutionären Entwicklung der Hominiden. Ihre Gehirnentwicklung machte ab jetzt einen gewaltigen Schub (Iriki & Taoka 2012). Es kann sogar angenommen werden, dass die Gehirnentwicklung auch deswegen vorangetrieben wurde, weil sich im weiteren Verlauf der Evolution die Fähigkeit glauben zu können herausbildete. Für die Fähigkeit, glauben zu können, benötigte das Gehirn neue Ressourcen. Das Entstehen von Creditionen konnte so zu einer treibenden Kraft der Gehirnentwicklung werden (Seitz & Angel 2020).
Zu einem interdisziplinären Forschungsgegenstand hat sich das Thema Credition hingegen erst im letzten Jahrzehnt entwickelt. Auf dem an der Universität Graz veranstalteten Grundlagenkongress The Structure of Credition 2015 wurde vom Neurologen Rüdiger J. Seitz postuliert, dass Credition eine Gehirnfunktion ist, die am Entstehung unserer Glaubensvorstellungen maßgeblich beteiligt ist. Dies bedeutet unter anderem, dass sich Creditionen nicht ausschalten lassen. Man kann also nicht “nicht glauben”, Diese Auffassung wurde im Jahr 2016 erstmals publiziert (Angel & Seitz 2016).
Die genannten Beiträge findet man auch auf dieser Website: https://credition.uni-graz.at/de/creditionenforschung/grundlagenforschung/
[8] Was bringt es mir, wenn ich über Creditionen Bescheid weiß?
Wir haben häufig (aber oft unbewusst) bestimmte Vorstellungen im Hinterkopf, die unsere Kommunikation beeinflussen. Diese zu kennen ist Voraussetzung dafür, dass man sie bei Ihrem Auftreten erkennen kann. Man kann sich dann mit den eigenen Vorstellungen - oft werden sie als basic beliefs bezeichnet - auseinandersetzen, und man kann gegebenenfalls auch daran arbeiten, sie zu verändern.
Hat man Zugang zu den Denkmustern, die im Hinterkopf wirksam sind, kann man auch mit anderen darüber sprechen. Dafür ist hilfreich, sich auf Modelle zu beziehen. Wer z.B. in Gesprächen häufig den Eindruck hat, vom Gegenüber zu etwas gedrängt zu werden, kann dies mithilfe des sogenannten Kommunikationsquadrats ("Vier-Ohren-Modell”) gut kommunizieren. Es erleichtert die Kommunikation, wenn das Gegenüber in einer Kommunikation das Modell ebenfalls kennt.
Die Creditionenforschung hat zwei Modelle entwickelt. Das eine nennt sich neurales Creditionen-Modell. Es beschreibt Vorgänge im Gehirn, die wirksam sind, wenn wir Glaubensvorstellungen entwickeln. Das andere ist das Creditionen-Kommunikationsmodell. Es lässt sich in Gesprächen einsetzen. Um es anzuwenden, sind keine neurowissenschaftlichen Kenntnisse erforderlich. Allerdings erleichert es auch hier die Kommunikation, wenn alle an einem Gespräch Beteiligten das Modell kennen.
[9] Sind die Creditionen-Modelle auch beruflich einsetzbar?
Ja. Das neurale Creditionen-Modell hilft zu verstehen, was in uns abläuft, während wir unsere Glaubensvorstellungen ausprägen und wie sich dies auf unser Handeln auswirkt. Es kann auch einsichtig machen, dass bei Creditionen klinische Störungen auftreten können, die abnorme Glaubensvorstellungen hervorrufen.
Auf das Credition-Kommunikationsmodell kann man sich beziehen, wenn man beruflich viel mit Kommunikation zu tun hat und das eigene und fremde Kommunikationsverhalten analysieren und besser verstehen möchte.
[2] Haben Creditionen etwas mit Religion zu tun?
Nein. Creditionen sind biologische Vorgänge. Sie treten sehr häufig auf und spielen bei allen Arten von Glauben eine Rolle (siehe [3] bis [9]). Auch wenn Creditionen nichts mit Religion zu tun haben, ist ihr Auftreten im Zusammenhang mit religiösem Glauben besonders auffällig (siehe [10] bis [15]).
[10] Welchen Einfluss haben Creditionen auf religiösen Glauben?
Creditionen sind daran beteiligt, wenn religiöser Glaube entsteht. Sie haben Einfluss darauf, ob religiöser Glaube wächst, abnimmt oder ganz verloren geht. Allerdings kann das Wort religiös irreführend sein.
[11] Was meint man mit religiös?
Die religiöse Semantik ist verwirrend.
(1) Es gibt zwei SUBSTANTIVE, die man klar von einander unterscheiden muss: Religion und Religiosität.
Dann gibt es das ADJEKTIV religiös. Es ist bipolar, weil es sich auf beide Substantive beziehen kann. Und es ist ein verbindendes Adjektiv, das auf das Verhältnis von Religion und Religiosität verweist. Wenn man das Adjektiv religiös verwendet, sollte man somit zum Ausdruck bringen, dass es sowohl um Religion als auch um Religiosität geht. In unserer Kultur wird diese Unterscheidung leider meist nicht gemacht.
(2) Im allgemeinen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird das Adjekt religiös vielmehr “amputiert”, weil man es meist ausschließlich auf Religion bezieht. Diese Verstümmelung hat eine negative Wirkung, weil nun die religiöse Semantik einseitig und falsch gewichtet wird. Insgesamt ist in unserer Kultur die Bedeutung von Religiosität unterbewertet. Diese Vernachlässigung kann aber geradezu gefährlich sein, etwa dann, wenn von religiösem Extremismus die Rede ist und damit eine Religion gemeint sein soll.
(3) Dann gibt es weitere Substantive wie z.B. Esoterik, Atheismus, Theismus, Mystik, Spiritualität oder Frömmigkeit sowie dazu gehörige weitere Adjektive wie fromm, mystisch, spirituell, atheistisch, agnostisch, esoterisch, holistisch und andere mehr. Mit der Bedeutung solcher Ausdrücke beschäftigen sich Religionsphilosophie und Religionspsychologie. Es wird z.B. analysiert, was mit Formulierungen wie “spirituell, aber nicht religiös” oder “religiös, aber nicht spirituell” ausgedrückt werden soll und welche Erfahrungen damit gemeint sind.
(4) Bei Religion(en) geht es um kulturelle Systeme. Bei Religiosität geht es um Personen bzw. um Individuuen. Wenn man die Charakterisierung religiös auf Individuen anwendet, dann geht es um die "Ausprägung von Religiosität”. Man kann z.B. analysieren, welches religiöse Verhalten mit der Ausprägung von Religiosität einhergeht.
[12] Was meint man mit Religiosität?
In der Psychologie meint man damit ein Persönlichkeitsmerkmal. Dieses ist allerdings nicht stabil. Im Laufe des Lebens kann sich die indivuelle Religiosität von Menschen tiefgreifend verändern. Wie Menschen im Laufe ihres Lebens mit Religionen umgehen und sich deren Glaubensinhalte aneignen, kann sich verändern. In entwicklungspsychologischer Hinsicht spielen auch die Einflüsse der umgebenden Kultur eine Rolle. All dies kann sich auf die Ausprägung individueller oder kollektiver Religiosität auswirken.
Doch jetzt kommt etwas wirklich Verrücktes: Es gibt eine Unzahl von theoretischen Vorschlägen, wie man Religion definieren kann. Aber: Es gibt kaum Versuche, das, was man unter Religiosität verstehen möchte, theoretisch zu klären.
Zudem ist das Wort “Religiosität” im allgemeinen Sprachgebrauch unserer Kultur unterbewertet und wenig gebräuchlich. Das Wort wird am ehesten in der Wissenschaft, etwa der Religionspsychologie, der Theologie oder der Religionspädagogik verwendet. Doch dies geschieht meist ohne genauere Vorstellungen darüber, was genau damit gemeint sein soll. Solange dies alle machen, fällt es kaum auf. In Wirklichkeit ist ein solches Sprachverhalten jedoch echt krass. Es verhindert zudem, dass man die Rolle von Creditionen bei der Ausprägung von Religiosität adäquat erfassen kann.
Doch wie kann man Religiosität definieren?
[13] Religiosität als erweitertes Homöostase-System
Wenn man versucht, Religiosität zu definieren, bewegt man sich auf relativ ungesichertem Terrain. Ein Vorschlag ist, Religiosität als ein erweitertes Homöostase-System zu verstehen, das dem Menschen trotz aller Bedrängnis oder Unsicherheit Halt und Stabilität gibt (Angel 2006, 69-91).
Wie kommt es zu dieser Auffassung?
Ausgangspunkt ist ein biologisch-körperliches Prinzip, das man als Homöostase bezeichnet. Diese hält den Organismus in einem ausbalancierten Gleichgewicht und ist für Lebewesen unerlässlich. Das biologische Homöostase-System ermöglicht, dass der Körper Veränderungen (etwa Temperaturunterschiede) auszubalancieren kann.
In analoger Weise kann man auch Religiosität als ein Balance-System verstehen, das über die rein körperlichen Herausforderungen hinausreicht. Dieses erweiterte Balance-System ist in der Lage, auf mental-geistige Herausforderungen zu reagieren, etwa dann, wenn bisherige Antworten zur Sinnfindung oder bisherige Vorstellungen in Sachen Transzendenz erschüttert werden. Die Suche nach einer inneren Balance kann gelingen und zu einem reiferen religiösem Glauben führen. Das Ausbalancieren erschütternder Erfahrungen kann aber auch misslingen und die individuelle Religiosität kann sich in düsterer Weise ausprägen, oder gar pathologisch werden.
Message to go: Religiosität lässt sich als erweitertes Balance-System verstehen, das über die biologischen Gegebenheiten hinausreicht und transzendente Erfahrungen umfassen kann.
Terminologie: Das biologische Balance-System kann man als Homöostase I bezeichnen. Religiosität als erweiterte und umfassendere Balance-Fähigkeit kann man als Homöostase II bezeichnen.
Religiosität und Credition: Die Auffassung, Religiosität als eine Art “Balance-System” zu verstehen, war ein entscheidender Impuls für den Beginn der Creditionenforschung (Angel 2022).
[14] Welche Rolle spielen Creditionen bei der Ausprägung von Religiostität?
Bei der Ausprägung menschlicher Religiosität spielen Creditionen eine zentrale Rolle. Sie haben Einfluss darauf, in welcher Weise sich individuuen auf eine Religion beziehen und dies hat Auswirkungen darauf, wie sie ihre Religiosität ausprägen. Die individuellen Erscheinungsformen von Religiosität (z.B. weltoffen, engstirnig, patriarchal, versöhnungsbereit, fundamentalistisch, usw.) können weit auseinanderliegen. Dies kann selbst dann der Fall sein, wenn Menschen sich auf die gleiche Religion beziehen. Die individuellen Erscheinungsformen von Religiosität können aber auch nahe beieinanderliegen, selbst dann, wenn Menschen sich auf verschiedene Religionen beziehen.
[15] Warum sind Creditionen für religiösen Glauben so bedeutsam?
Wenn man klar zwischen Religion und Religiosität unterscheidet, kann man feststellen: Religiöser Glaube kann immer dann entstehen, wenn jemand unter Bezug auf eine Religion (einschließlich ihres je aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Kontexts) die eigene individuelle Religiosität ausprägt.
Menschen können gegenüber Religonen unterschiedlich sensibel sein. Sie können bei der Ausprägung ihrer Religiosität zudem auf verschiedene Weise mit Religionen umgehen. Sie können sich z.B. alle Vorgaben aneignen, sie können aber auch einzelne Bestandteile von Religionen ablehnen. Creditionen haben Einfluss darauf, ob und wie dies geschieht. Deswegen tragen Creditionen dazu bei, dass es selbst innerhalb einer gleichen Religion (oder auch Konfession) zu unterschiedlichen Ausprägungen individueller Religiosität kommt. Wenn man verstehen möchte, warum es innerhalb ein und derselben Religion so große Unterschiede im religiösen Verhalten gibt, ist es hilfreich, Creditionen zu verstehen.
Das gleiche gilt, wenn man wissen möchte, warum es über die Grenzen von Religionen hinweg Gemeinsamkeiten im religiösen Verhalten gibt. Auch hier sind Creditionen einer der entscheidenden Faktoren. Kenntnisse über Creditionen können deswegen dazu beitragen, die Spannung zwischen den Religionen zu verringern und mit deren Differenzen konstruktiv umzugehen.
Neuigkeiten und bevorstehende Veranstaltungen
Leitung des Credition Research Project
Univ.-Prof. Dr.phil. Aljoscha Neubauer Headquarter Graz - Koordination
Prof. Dr. Hannes Hick CreditionLab TU Graz - Leitung
Prof. Dr. Nina Dalkner CreditionLab MedUni Graz - Leitung
Wissenschaftliche Gesamtplanung
Prof. Dr. Hans-Ferdinand Angel
Wissenschaftliche Biografie:
1976 -1981 Studium Latein, Theologie, Geschichte in Regensburg und Paris
1982 - 1984 Unterricht am Humanistischen Gymnasium Leopoldinum in Passau und am humanistisch-neusprachlichen Gymnasium in Kelheim
1984 - 1988 Doktorat für Religionspädagogik an der Universität Regensburg (Prof. Dr, Wolfgang Nastainczyk): Thema: Naturwissenschaft und Technik im Religionsunterricht
1988 - 1994 Habilitation für Religionspädagogik an der Universität Regensburg (Prof. Dr. Wolfgang Nastainczyk): Thema: Der religiöse Mensch in Katastrophenzeiten. Religionspädagogische Perspektiven kollektiver Elendsphänomene
1994 - 1996 Privatdozent an der Universität Regensburg
1996 - 1997 Professur für Religionspädagogik an der TU Dresden
1997 - 2023 Professur für Katechetik und Religionspädagogik an der Karl-Franzens Universität Graz
2011 Wissenschaftliche Leitung des Credition Research Project
2023 Professor emeritus der Karl-Franzens Universität Graz
https://religionspaedagogik.uni-graz.at/de/persoenlichkeiten/